neijing tu

Kenneth Cohen war so freundlich, uns hier die Veröffentlichung seiner Interpretation des Neijing tu aus dem Tempel der Weißen Wolke in Peking zu gestatten. Diese Interpretation findet sich in Kenneth Cohens Buch „Der Weg des Qigong". Sie ist natürlich eine von vielen möglichen, zeigt aber auf klare Weise die bildhaft sinngebenden Elemente traditioneller chinesischer Überlieferungen auf. Übersetzung aus dem Englischen durch das CTND!

Die Karte des inneren Glanzes ist eine symbolische Repräsentation des menschlichen Körpers und der geistigen Kräfte, die ihm innewohnen. Der Boden der Karte ist das Steißbein, die Spitze der Scheitelpunkt. Die Karte wurde 1886 im Tempel der Weißen Wolke in Peking (der Sitz des Quan Zhen-Daoismus) von einem daoistischen Priester namens Liu Cheng-yin in Stein gemeißelt. Wenn man die Karte von unten nach oben liest, kann man sie gemäß der Qigong-Philosophie wie folgt interpretieren:

- Der Junge und das Mädchen, die an der Tretmühle arbeiten, repräsentieren die Notwendigkeit, Yin (feminine) und Yang (maskuline) Energie auszubalancieren. Sie repräsentieren zudem die rechte und die linke Niere, die in der chinesischen Medizin als Reservoire sexueller Potenz erachtet werden. Die beigefügte Inschrift besagt: "das Wasser der Nieren wechselt seinen Kurs". Das bedeutet, dass durch die Ausübung von Meditation die wassergleiche sexuelle Potenz konserviert und nach oben gelenkt wird, wodurch sie Wirbelsäule und Gehirn heilt und den Körper mit Vitalität auflädt.

- Als nächstes sehen wir einen Mann, der mit einem Oxen pflügt. Die Inschrift besagt: "der eiserne Bulle bestellt die Erde und säht die goldene Münze". Dieses bedeutet, dass Qigong die Beharrlichkeit eines Bauern erfordert und die Ausdauer eines Bullen. Reguläres Üben ermöglicht dem Praktizierenden, den Samen langen Lebens und Weisheit ("die goldene Münze") zu pflanzen. Das Erde-Element, welches der Milz zugeordnet ist, kann auch betrachtet werden als Symbol des Qi (Energie), welches mithilfe ausgewogener Ernährung und eines harmonischen Lebensstils erworben wurde.

- Die vier kreisförmigen Yin-Yang-Symbole, die von einem feurigen Topf hängen, repräsentieren das untere Dantian, das "Feld des Elixirs", unter dem Bauchnabel. Das Dantian ist wie ein alchemistischer Behälter. Indem man Bauchatmung betreibt, beginnt die innere Energie zu kochen. Schließlich "dampft" sie, heilt, repariert und energetisiert den Körper. Die vier Yin-Yang-Symbole strahlen Energie in alle Richtungen aus.

- Die webende Maid und der Junge darüber symbolisieren die Einheit von Yin und Yang. Die webende Maid ist Yin, die Fähigkeit, Energie zu speichern, nach innen zu gehen und Ruhe zu bewahren. Die innere Ruhe ist eine Grundvoraussetzung für die Kultivierung von Energie. Gemäß der chinesischen Legende spinnt die webende Maid ein Seidengewand aus Mondlicht, welches wir als die Milchstraße kennen. Hier ist das seidene Gewand die innere Energie, die die Wirbelsäule aufsteigt.

- Der Junge repräsentiert Yang, das Aktive und Nach-außen-Dringende. Er steht in einem Ring aus Blut; er ist der Geist des Herzens und des mittleren Dantian. Gemäß der chinesischen Legende wird er normalerweise "der Kuhhirten-Junge" genannt, und er und die webende Maid waren einst Liebende. Doch da sie ihre Pflichten vernachlässigten, verwandelte der Jade-Kaiser, der Herrscher des Himmels, sie in Sterne an gegensätzlichen Positionen im Himmel. Eine Nacht im Jahr, dem siebten Tag des siebten Monats, wird der Liebestag in China gefeiert, an dem sie die Himmel durchkreuzen und sich treffen. In der Karte des inneren Glanzes verbindet eine Brücke von Qi die entfernten Liebenden. Der Junge repräsentiert spirituelle Weisheit, Unschuld, Einfachheit und eine jugendliche Vitalität, die durch Qigong wiedererlangt werden können.

- Wir erblicken die Sterne des Großen Wagens, die aus der Krone des Kuhhirten hervorkommen. Dieses bedeutet, dass ein Qigong-Schüler das Qi der Sterne absorbieren und Harmonie mit dem Kosmos anstreben sollte. Daoisten glauben, dass der Griff des Großen Wagens wie ein Blitzableiter funktioniert und Qi von den Sternen in den Bauch des Wagens ableitet. Während eines Jahres macht der Griff des Großen Wagens eine 360-Grad-Drehung. Da er hierdurch auf alle Sterne zeigt, ist er das Speicherbecken für astrale Kräfte.

- Der Wald ist das Holz-Element und die Leber. Er repräsentiert das größte Organ im Körper und hat daher eine herausragende Stellung in der Karte. Die Leber kontrolliert gemäß der chinesischen Medizin den gleichmäßigen Fluss des Qi. Ein gesunder "Wald" ist sehr wichtig für den Erfolg im Qigong. Aber man kann seine Gesundheit nicht durch ausschließlichen Fokus auf nur ein einziges Organ verbessern. Nieren-Wasser hilft der Holz-Leber zu wachsen. Das Holz wiederum stellt den Brennstoff für das Herz-Feuer bereit. Herz-Feuer erzeugt Asche und Nährstoffe für den Bauern, der damit eine gute Ernte von der Erde (Milz) einfährt. Die Erde produziert Gold und Metall, das Element und die Energie der Lungen. Metall wird zu geschmolzener Flüssigkeit, die die Nieren füttert. Alle Organe stellen daher einen Kreislauf gegenseitiger Abhängigkeiten dar.

- Die zwölf-gliedrige Pagode repräsentiert die Kehle und den Nacken. Während der Meditation wird Qi von dem sexuellen Zentrum die Wirbelsäule hoch gepumpt und passiert dabei das mittlere Dantian und die inneren Organe, bis hin zur Kehle. Sie geht weiter über den Kopfscheitel und dann im vorderen Körperbereich nach unten. Die Kehle stellt eine Körperregion dar, in der die Energie leicht ins Stocken gerät, was ein Ergebnis schlechter Körperhaltung, Spannung im Nacken oder [mangelnder] Konzentration ist. Letztere ist notwendig, um das Qi nach oben fließen zu lassen. Aus einer westlichen, psychologischen Perspektive heraus kann das Qi in der "Pagode" aufgrund von Schwierigkeiten im Ausdruck und in der Kommunikation behindert werden. Die Pagode kann auch die Wichtigkeit symbolisieren, einen hohen Ausguck beizubehalten und sich nicht in Details zu verlieren.

- Links von der Pagode sehen wir einen rechteckigen See mit dem Wort "Zugbrücke" daneben. Der See ist der Mund und der Speichel. Die Brücke ist die Zunge. Der See liefert Wasser, welches verhindert, dass der Mund während der Atemübungen zu trocken wird. Speichel absorbiert zudem das Qi während der Meditation; der Meditierende schluckt regelmäßig Speichel und stellt sich vor, dass er im unteren Dantian anlangt und es dadurch auffrischt. Die Zunge stellt die Brücke zwischen den beiden Haupt-Meridianen dar, dem Lenker-Gefäß, welches der Wirbelsäule und dem Kopfscheitel folgt und am oberen Gaumen endet, und das Dienergefäß, welches an der Zungenspitze startet und hinunter bis zum Damm, dem Perineum, absteigt. Mit der Zungenspitze den oberen Gaumen zu berühren schließt damit den Kreislauf, so dass Qi ohne Unterlass zirkulieren und fließen kann.

- Über dem See befinden sich zwei Kreise, die die zwei Augen und die Sonne und den Mond repräsentieren. Der Qigong-Schüler schließt seine Augen und lenkt sein Licht nach innen, um seine innere Welt zu beleuchten. Indem man sich in Selbst-Wahrnehmung übt, wandelt man sich in einen Weisen wie Laozi, die meditierende Figur über dem rechten Auge, oder Bodhidharma, den Begründer des Zen Buddhismus, der als Figur mit erhobenen Armen unter Laozi dargestellt wird. Die Präsenz von Laozi und Bodhidharma, die hochgeschätzten Begründer von Daoismus und Zen, kennzeichnet die Wichtigkeit von Meditation als Mittel, um Eingebung und Weisheit zu erwecken. Sie repräsentieren auch die fundamentale Einheit unterschiedlicher spiritueller Wege, die alle zum selben Ziel führen.

- Weiter die Wirbelsäule hoch sehen wir den Kopf als eine Folge heiliger Berge. Berge werden als Tunnel betrachtet, die stellare und himmschlische Energie ziehen; diese Energie wird in Höhlen konzentriert. Daoisten gehen daher in Höhlen, um zu meditieren und mit himmlischen Kräften zu kommunizieren. Der menschliche Körper ist ein Mikrokosmos des Universums, ein "kleiner Himmel und eine kleine Erde". Im Neijing tu sind die Meditations-Höhlen im Kopf des Meditierenden selbst.

- An der Kopfspitze sind folgende Worte: "Nirvana [Erleuchtung]", "Königreich der Weisen" und "Langlebigkeit". Dieses sind die Ziele von Qigong Meditation.

 

Fußnote: Der Name dieser Karte, Neijing tu, wird auch übersetzt mit "die Karte der inneren Textur der Meditation". Jing (welches nicht mit dem Homonym Jing verwechselt werden sollte, das sexuelle Energie meint) bezieht sich üblicherweise auf die Gewebekette eines Textils. Allerdings glaube ich hier, dass der Autor bewusst auf ein anderes Wort mit ähnlicher Aussprache anspielt, welches die Geister bezeichnet, die in der Meditation gefühlt werden können.

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